Chronologie der Alevitinnen und Aleviten

Vorzeit: Anatolisches Erbe und spirituelle Tiefenschichten
Lange vor der Entstehung des Alevitentums im Mittelalter war Anatolien Heimat hochentwickelter Kulturen wie der Hethiter, die für ihre Sonnenkulte, Naturverehrung und ethischen Ordnungen bekannt waren. Diese frühen Vorstellungen von Gleichgewicht, Respekt vor der Natur, weiblich-männlicher Harmonie und innerer Reife leben im Alevitentum weiter – in Symbolen, Ritualen und in der Lehre vom Menschen als Spiegel des Universums. Das Alevitentum ist daher auch Träger eines jahrtausendealten geistigen Erbes Anatoliens.

Vor 7. Jh. v. Chr. – Anatolische Wurzeln und spirituelle Kontinuitäten
In Anatolien – dem heutigen Gebiet der Türkei – lebten seit Jahrtausenden alte Hochkulturen wie die Hattier, Hethiter (Hititler), Luwier und später Urartäer.
Diese Kulturen praktizierten Naturspiritualität, Fruchtbarkeitskulte, Kreislaufdenken, Friedenssymbolik (z. B. der Hethitische Sonnengott) und verehrten Muttergottheiten – also archetypische Vorstellungen, die in der alevitischen Weltsicht in neuer Form wieder auftauchen.
Die Vorstellung von einer göttlichen Einheit in der Natur, das Prinzip der Dualität (z. B. Tag–Nacht, Frau–Mann), die Achtung vor Wasser, Erde, Feuer und Luft finden sich sowohl in diesen frühen Traditionen als auch im späteren Alevitentum (z. B. in der Vier-Elemente-Lehre und Naturverbundenheit).

Auch der Glaube an eine ethische Ordnung, die nicht auf Gehorsam, sondern auf Harmonie beruht, ist in diesen alten Kulturen vorhanden – vergleichbar mit dem alevitischen Prinzip „Eline, beline, diline sahip ol“ (Achte auf deine Handlungen, deine Sexualität, deine Worte).

Antike – Synkretismus in Anatolien
Im weiteren Verlauf verschmolzen viele religiöse Ideen – z. B. aus dem Zoroastrismus, Orphismus, Manichäismus, Mithraskult und gnostischen Schulen – mit anatolischen Traditionen.
Diese Denksysteme betonten: Licht gegen Dunkelheit, innere Erkenntnis, individuelle Reifung, Ablehnung von äußerem Zwang – alles zentrale Ideen, die sich auch später im Alevitentum finden.
Die Menschen in Anatolien entwickelten über Jahrhunderte hinweg eine Widerstandskultur gegen autoritäre Religionen und imperiale Machtansprüche, was die alevitische Haltung gegenüber Dogmen, Unterdrückung und blinder Gefolgschaft historisch erklärt.

Fazit zur Frühzeit:
Das Alevitentum ist keine „abgekoppelte“ Religion, sondern trägt die Erinnerung und das geistige Erbe ältester anatolischer, persischer und mesopotamischer Kulturen weiter – in neuer Form, aber mit tiefer Kontinuität.
Es ist also durchaus berechtigt, von einer spirituell-kulturellen Linie von den Hethitern über antike Mystik bis zum Alevitentum zu sprechen – nicht im dogmatischen Sinn, sondern als Träger eines uralten humanistisch-spirituellen Weltbildes.


7.–10. Jahrhundert: Ursprünge und frühe Strömungen
  • Entstehung freidenkerischer, spirituell-humanistischer Bewegungen in Vorderasien.
  • Einfluss von mystischen Strömungen, insbesondere aus dem zoroastrischen, christlichen, manichäischen und heterodox-sufischen Umfeld.
  • Ablehnung religiöser Dogmen und autoritärer Herrschaft durch frühsozial-religiöse Bewegungen, z. B. die Kaysanit*innen, Muchtariten, Mazdakiten.
10.–13. Jahrhundert: Entwicklung alevitischer Identität
  • Entstehung der bāṭinī-sufischen Gemeinschaften in Anatolien und Persien.
  • Einfluss bedeutender Persönlichkeiten wie Yesevî, Hallâc-ı Mansûr und Ahmed Yesevî, die für innere Erkenntnis und Gerechtigkeit eintraten.
  • Hace Bektaş Veli (13. Jh.) wird zur zentralen Figur der alevitischen Ethik und Lehre. Er steht für Bildung, Gleichheit, Toleranz und Liebe.
14.–16. Jahrhundert: Konsolidierung und Verfolgung
  • Bildung eigenständiger religiös-kultureller Strukturen in Anatolien – z. B. Ocak-System und Cem-Zeremonien.
  • Pir Sultan Abdal, ein alevitischer Dichter und Rebell, steht symbolisch für Widerstand gegen Unterdrückung.
  • Konflikt mit dem expandierenden sunnitisch-orthodoxen Osmanischen Reich.
  • Nach dem Sieg der Osmanen über die Safawiden (Schlacht bei Çaldıran 1514): Beginn massiver Repressionen gegen Alevit*innen als „Ketzer“.
17.–19. Jahrhundert: Isolation und kulturelle Bewahrung
  • Rückzug der Alevit*innen in ländliche Gebiete, um ihre Lehre im Verborgenen zu bewahren.
  • Weitergabe der Lehre mündlich und innerhalb familiärer Linien (Ocak-System).
  • Musik, Dichtung und Mystik werden zentrale Ausdrucksformen.
  • Alevitische Gemeinden leben in sozialer, religiöser und politischer Marginalisierung, bewahren aber ihre Tradition trotz Diskriminierung.
20. Jahrhundert: Sichtbarkeit und Migration
  • Nach der Gründung der Türkei 1923: Verbot vieler religiöser Praktiken – auch der Cem-Zeremonien.
  • Alevitische Identität wird im kemalistischen Staat nicht anerkannt.
  • Ab 1960er-Jahren: Arbeitsmigration alevitischer Familien nach Europa, insbesondere nach Deutschland.
  • In der Diaspora entstehen die ersten modernen alevitischen Vereine – Grundlage für heutige Organisationen.
Ab 1990: Organisierte Selbstvertretung
  • Gründung der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF) 1992.
  • Einsatz für Anerkennung als eigenständige Glaubensgemeinschaft.
  • Aufbau von Cemevîs (Gemeindezentren) und Bildungsarbeit.
  • Beginn des Alevitischen Religionsunterrichts (ARU) in mehreren Bundesländern.
Heute: Anerkennung und Vielfalt
  • Alevit*innen engagieren sich aktiv für Demokratie, Menschenrechte, Bildung, Gleichstellung und kulturelle Vielfalt.
  • In Deutschland und Europa gelten sie als anerkannte Religionsgemeinschaft mit eigener Lehre, eigenen Ritualen und Strukturen.
  • Das Alevitentum wird zunehmend als humanistisch-spirituelle Lebensphilosophie wahrgenommen – jenseits religiöser Dogmen.

Die Geschichte