Das alevitische Wertesystem – Die vier Tore und vierzig Stufen (Dört Kapı Kırk Makam)

Das alevitische Wertesystem: Die vier Tore und vierzig Stufen (Dört Kapı Kırk Makam)

Alevitinnen und Aleviten glauben, durch das Wertesystem der "Vier Tore und Vierzig Stufen" zu innerer Reife und spiritueller Vervollkommnung zu gelangen. Dieser Weg ist kein äußerliches Ritualsystem, sondern ein lebenslanger Prozess der Erkenntnis, Selbsterziehung und tätigen Nächstenliebe.

Der Glaube ist batinî geprägt: Aussagen, Symbole und Texte werden in ihrer verborgenen (inneren) Bedeutung verstanden. Die Vier Tore (Kapılar) stehen für verschiedene Ebenen des spirituellen Fortschritts:

Şeriat (die äußerliche Ordnung): Hier geht es um ethisches Verhalten, soziale Verantwortung und erste geistige Schulung.

Tarikat (der Weg): Der Mensch gibt ein Versprechen (ikrar) ab und begibt sich bewusst auf den spirituellen Pfad.

Marifet (die Erkenntnis): Der Suchende erlangt tiefere Einsichten über sich selbst, die Gemeinschaft und das Universum.

Hakikat (die Wahrheit): Die höchste Stufe: die Verschmelzung mit der Wahrheit, Gotteserkenntnis und innerer Frieden.

Jedes Tor umfasst zehn Stufen (Makam), also insgesamt vierzig. Diese Regeln und Tugenden betreffen das individuelle wie gemeinschaftliche Leben: Lernen, Gerechtigkeit, Geduld, Wahrhaftigkeit, Überwindung des Egos, Respekt gegenüber Mensch und Natur, Liebe und Hingabe.

Die Öllampe als Symbol

Ein oft genutztes Symbol für die Vier Tore ist die Öllampe:
  • Die Lampe selbst steht für die sichtbare Ordnung (Şeriat).
  • Das Öl im Inneren steht für das innere Streben (Tarikat).
  • Der Docht steht für das Unterscheidungsvermögen (Marifet).
  • Das Licht ist das Ziel: Wahrheit (Hakikat).

Diese Metapher zeigt: Nur durch das Zusammenspiel aller Elemente kann "Licht" entstehen – wie auch die Wahrheit nur durch Verstand, Gefühl, Körper und Geist erfahrbar wird.

Die "Vier Tore, Vierzig Stufen" sind kein starrer Regelkanon. Sie sind ein Weg zur Selbsterkenntnis, zum achtsamen Leben in der Gemeinschaft und zur spirituellen Verbindung mit der Wahrheit – im Sinne von Ahl-i Beyt, von Menschlichkeit und Liebe (Muhabbet).
Die vier Tore und vierzig Stufen

Das spirituelle Leben der Aleviten wird durch die Vier Tore und Vierzig Stufen geprägt – ein Weg der inneren Entwicklung hin zur Wahrheit und Vollkommenheit.

1. Tor: Şeriat (äußeres Gesetz)
Şeriat bedeutet im Alevitentum nicht das islamische Rechtssystem (Scharia), sondern die grundlegenden äußeren Regeln und Verhaltensweisen. Durch Geburt in die Gemeinschaft gilt dieses Tor als „erledigt“. Es umfasst zehn Grundregeln wie Glauben, Lernen, ehrliches Einkommen, Ehetreue und Fürsorge.

2. Tor: Tarikat (spiritueller Weg)
Tarikat ist der innere Weg der spirituellen Reife, eingeleitet durch die Initiation (İkrar). Ein Lehrer (Rehber) begleitet den Suchenden. Ziel ist die bewusste Ausrichtung auf Gemeinschaft, Demut, Geduld und Liebe zu Menschen und Natur. Zehn Stufen zeigen die Entwicklung auf diesem Weg.

3. Tor: Marifet (mystische Erkenntnis)
Marifet steht für Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, die im gemeinschaftlichen Ritual (Muhabbet) erfahrbar wird. Der Mensch erkennt sich als Teil der Schöpfung und erfährt Harmonie von Körper, Geist und Seele. Zehn Tugenden wie Geduld, Freigiebigkeit und innere Reinheit kennzeichnen diese Stufe.

4. Tor: Hakikat (Wahrheit)
Hakikat ist die höchste Stufe, in der der Mensch Ganzheit erfährt – die Einheit mit Gott und der Schöpfung. Es geht um Demut, Glauben an die Einheit Gottes, Selbstbeherrschung und tiefe spirituelle Erkenntnis. Zehn Stufen führen zu einem Leben im Einklang mit dem göttlichen Willen.

Wesentliches Prinzip:
Die Vier Tore sind kein linearer Ablauf, sondern ein miteinander verwobenes System, das lebenslanges Lernen und spirituelle Praxis erfordert. Die Aleviten streben danach, ihr Ego zu überwinden und in Liebe und Harmonie mit sich selbst, den Mitmenschen und Gott zu leben.

Zitat von Yunus Emre zur Wahrheit (Hakikat):

Haktan inen serbeti içtik elhamdülillah
Kuru idik yaşolduk, ayak idik başolduk,
Kanatlandik kuşolduk, uçtuk elhamdülilah.
Yunus Emre

Wir tranken das Elixier, das von der Wahrheit herabgesandt wurde, Gott sei Dank.
Wir waren trocken und wurden lebendig, wir waren Füsse und wurden zum Kopf,
Wir bekamen Flügel, wurden Vögel und flogen, Gott sei Dank.
Yunus Emre

Die Aleviten glauben, dass jede Alevitin und jeder Alevit durch den Anteil ihrer/ seiner heiligen Kraft Gottes zur Erkenntnis der Wahrheit Gottes kommen kann, wenn sie/ er ihr/ sein Leben regelmäßig und vollkommen nach den oben genannten Stufen/Regeln führt.

Ein Gedicht von Yunus Emre sagt zum Gefühl für die Stufe „Wachsen in der Erkenntnis“

Canlar canını buldum, 
Bu canım yağma olsun.
Assı ziyandan geçtim
Dükkanım yağma olsun
Yunus Emre

Ich habe die Seelen gefunden, die mein Herz berühren,
Dieses Herz sei ihr Geschenk.
Ich habe das Bittere und das Schlechte überwunden,
Mein Herz sei offen für alle.
Yunus Emre